EINLEITENDE WORTE
Vor Kurzem habe ich einen interessanten Beitrag auf 3sat gesehen: 3sat – Wie Hochsensible die Welt wahrnehmen
Im Video geht es einerseits um diesen recht neuen Forschungsgegenstand in der Psychologie als auch um den Alltag sehr unterschiedlicher Menschen die sich als hochsensibel beschreiben und im Video erzählen wie sie mit diesem Persönlichkeitsmerkmal umgehen.
Das Thema Hochsensibilität verfolge ich aber generell in der psychologischen Praxis schon länger, denn man nimmt an, dass Menschen die sich als hochsensibel wahrnehmen, verstärkt unter psychischen Belastungen leiden. Leider gibt es aktuell nicht viele deutschsprachige Fortbildungen für Psycholog*innen zu diesem Thema und deshalb freue ich mich sehr über diesen Beitrag von Dr. Christina Blach, die für uns in Psy-Berufen Tätige diesen informativen und spannenden Beitrag zur Verfügung gestellt hat.
Danke, liebe Frau Dr. Blach für diesen hilfreichen Fachartikel der hoffentlich mehr Achtsamkeit für die Arbeit mit hochsensiblen Klient*innen schaffen wird!
Hochsensibilität in der klinisch-psychologischen Praxis
Das Konstrukt der Hochsensibilität wurde erstmals von dem Ehepaar Aron (1997) beschrieben.
Sie gehen davon aus, dass Hochsensibilität eine angeborene Disposition ist und konzeptuell von Introversion und Neurotizismus (Schüchternheit und negativer Emotionalität) zu trennen ist.
Hochsensibilität zeigt sich in einem
- – v.a. in neuartigen Situationen – gehemmten Verhalten,
- einer offeneren und subtileren Wahrnehmung, die in reizintensiven Situationen leicht zu Übererregung führen kann,
- einer intensiveren zentralnervösen Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen sowie
- damit einhergehende stärkere emotionale Reaktionen (Aron et al. 2012).
Somit neigen Hochsensible beispielsweise zu stärkerer Nervosität und Emotionalität, fühlen sich schneller belastet und sind empfindlich auf Außenreize wie z.B. Lärm, Licht und Koffein.
Hochsensibilität zeichnet sich aber auch durch tiefgründige Gedanken und tiefgehende Gefühle, ein reiches Innenleben, intensives Erleben von positiven Reizen z.B. bei Kunst, Musik und in der Natur aus.
Die 3 Kategorien der Hochsensibilität
Anfänglich haben Aron und Aron (1997) das Konstrukt als dichotom angesehen.
Inzwischen geht die Forschung davon aus, dass sich die Verteilung der Sensibilität mit drei Kategorien abbilden lässt:
Etwa 30% werden als niedrig, 40% als mittel und 30% als hoch eingestuft.
Lionetti et al. (2018) haben in Anlehnung an die Botanik folgende Bezeichnungen gefunden:
- Für die niedrig Sensiblen wurde der Löwenzahn, der als robust gilt, gewählt.
- Den mittelmäßig Sensiblen wurde das Bild der Tulpen zugewiesen, die weniger empfindlich als Orchideen sind, aber mehr Pflege brauchen als ein Löwenzahn.
- Für die Hochsensiblen wurde die Metapher der Orchideen gefunden, die optimale Pflege brauchen, aber besonders schön sind, wenn sie aufblühen.
Wenn man Orchideen nicht gut pflegt
Hochsensibilität wird als Temperaments- oder Persönlichkeitsmerkmal angesehen und sollte deshalb nicht als Diagnose verstanden werden.
In der klinisch-psychologischen Praxis fällt jedoch auf, dass Hochsensible, die Hilfe suchen, oftmals unter psychischen Belastungen und Störungen leiden.
Hochsensibilität ist beispielsweise
- mit sozialer Ängstlichkeit assoziiert (Neal, Edelmann & Glachan 2002; Hofmann & Bitran 2007),
- mit Ängstlichkeit und Depressivität (Bakker & Moulding 2012; Liss et al. 2005, Liss et al. 2008),
- mit saisonal bedingter Störung (Winterdepression; Hjordt & Stenbaek 2019) und
- mit Burnout-Symptomen (Golonka & Gulla 2021).
Auch in der Studie von Blach (2016) zeigten sich höhere Werte von chronischem Stress, Ängstlichkeit und Depressivität bei Hochsensiblen im Vergleich zu weniger Sensiblen.
In einer systematischen Übersichtsstudie von Costa-Lopez et al. (2021) schreiben die Autor*innen, dass Hochsensibilität ein Persönlichkeitsmerkmal zu sein scheint, dass das Auftreten von mentalen Problemen wie Ängstlichkeit, Depression, Schlafstörungen und Stress begünstigt.
Konrad und Herzberg (2017) konnten in ihrer Studie hohe Werte in der psychischen Symptombelastung bei Hochsensiblen zeigen. Jedoch war die Belastung in beiden Gruppen (bei Hochsensiblen und weniger Sensiblen) hoch, was bedeutet, dass eine stärkere Symptombelastung nicht mit Hochsensibilität gleichzusetzen ist, sondern dass Hochsensibilität in Kombination mit psychischer Belastung auftreten kann.
Hochsensible Klient*innen
Aron (2010) nimmt an, dass ca. 50 Prozent der Klient*innen in freier Praxis hochsensibel sind.
Ein weiterer Aspekt, warum es sinnvoll scheint, sich mit dem Konstrukt als Behandler*in vertraut zu machen, ist dem Fakt geschuldet, dass sich immer mehr Klient*innen damit identifizieren.
Wie kann man als Behandler*in Hochsensibilität im therapeutischen Gespräch erkennen?
Hochsensibilität im psychologischen Gespräch erkennen:
Aron (2010) schlägt die DOES-Regel vor, mit der man sich auf folgende vier Punkte konzentriert:
1. Depth of processing:
Verarbeitungstiefe (tiefgründige Gedanken, tiefgehende Gefühle),
2. Overarousability:
Übererregbarkeit (stärkere Nervosität, schneller über die eigenen Grenzen kommen),
3. Emotional intensity:
stärkere emotionale Reaktionen (positiv wie negativ),
4. Sensory sensitivity.
sensorische Sensibilität (z.B. Lärm- u. Lichtempfindlichkeit, Koffeinempfindlichkeit, Kleidung auf der Haut, …).
Des Weiteren hat Hoffmeister (2012) folgende Aspekte, die mit Hochsensibilität korrelieren, identifiziert:
Verletzbarkeit, Tendenz zur Melancholie, Fantasie, Kreativität, Religion/Spiritualität, Gefühlsansteckung, Perfektionismus, emotionale Intelligenz, Hilfsbereitschaft und Neigung zur Selbstkritik.
In der Praxis weisen hochsensible Klient*innen auch oftmals einen erhöhten Gerechtigkeitssinn sowie starke moralische Werte auf.
Ebenso scheinen Empathie, Gefühlsansteckung und prosoziales Verhalten bei Hochsensiblen verstärkt zu beobachten zu sein (Bas et al. 2021).
Interventionen bei hochsensiblen Klient*innen
Als eine primäre Intervention kann Bibliotherapie (Arbeit mit Büchern über Hochsensibilität in der Therapie) ein guter Ansatz sein.
Die Selbsterkenntnis der Hochsensibilität kann bei vielen Klient*innen im Umgang mit ihren Belastungen Erleichterung und positive Prozesse in Gang bringen (Banek 2022; Roth et al. 2023).
In weiterer Folge stellt die Psychoedukation bezüglich der psychophysiologischen Korrelate von Hochsensibilität eine brauchbare Interventionsmethode dar.
Hochsensible reagieren schneller und intensiver auf Reize und geraten so vermutlich rascher über die Stressschwelle als weniger Sensible.
Zusätzlich sind Selbstbeobachtungsinstrumente ein geeignetes Tool, um dieser Symptomgenese entgegenzuwirken.
Diese Interventionsmethode eignet sich auch, um die stärkeren emotionalen Reaktionen, die leichtere Übererregung und die damit einhergehenden psychophysiologischen Symptome aufzuzeigen:
- Einige hochsensible Menschen berichten von erhöhter Schmerzempfindlichkeit
- und einer Überreaktion auf Koffein und Medikamente.
- Tendenzen zu niedrigem Blutzucker und zu Unterzuckerung zeigen sich als starke Beeinträchtigung in der Befindlichkeit, indem sich u.a. Konzentration und Stimmung verschlechtern sowie Reizbarkeit und Schwindelzustände auftreten.
- Sie benötigen mehr Zeit zur Regeneration und oft mehr Schlaf als weniger sensible Personen, Überstimulation kann jedoch zu Schlaflosigkeit führen.
Umgang mit Stress bei Hochsensibilität
Aufgrund der höheren Ängstlichkeits-, Depressions- und Stresswerte bei Hochsensiblen (z.B. Blach 2016; Bakker & Moulding 2012; Liss et al. 2005, Liss et al. 2008) könnte ein Behandlungsansatz das Erlernen von Entspannungs- und imaginativen Techniken sein, wodurch eine allgemein erhöhte psychophysiologische Erregung bzw. Anspannung reduziert wird.
Aron (2010) empfiehlt folgende Ziele im Rahmen eines Stressmanagementprogramms:
- Umgang mit Überstimulation,
- Selbstschutz,
- Nein-sagen lernen,
- Methoden der Selbstberuhigung erlernen,
- Ruhezeiten gönnen und einplanen,
- rechtzeitige Pausen machen,
- gut vorbereitet sein,
- auf das Gewohnte zurückgreifen,
- Meditation erlernen
- und Naturerlebnisse.
Wichtig ist für die Stressbewältigung, dass sich hochsensible Personen ihrer vorhandenen Energien, Ressourcen und Grenzen bewusst werden (z.B. Stressbewältigung nach Wagner-Link 2010; Kaluza 2018).
Des Weiteren können achtsamkeits- und akzeptanz-basierte Interventionsprogramme wirksam sein
sowie Interventionen, die die Selbstwirksamkeit und die Emotionsregulation stärken (Brindle et al. 2015; Bakker & Moulding 2012; Kenemore et al. 2023; Soons et al. 2010).
Bewegung und Sport bei Hochsensibilität
Auch Bewegung und Sport sollte propagiert werden:
Personen, die regelmäßig Sport betreiben, weisen einen niedrigeren Feinfühligkeitswert auf als unsportliche Personen (Blach 2016),
Steigerung der Häufigkeit des Sporttreibens reduziert den Zusammenhang von Hochsensibilität und depressiven Tendenzen bei Student*innen (Yano & Oishi 2018)
und Hochsensible profitieren von Yoga (Amemiya et al. 2020).
Was für hochsensible Klient*innen in der Therapie wichtig ist
Da sich die Belastungen bei Hochsensiblen auf den verschiedensten Ebenen zeigen, müssen die Interventionen individuell abgestimmt werden.
Deswegen macht eine eigenständige „Hochsensibilitäts-Therapie“ keinen Sinn.
Genauso sind spezielle Ausbildungen für Hochsensibilitäts-Coachings oder -Beratungen/-Therapien nicht sinnvoll.
Wichtig ist, dass nicht nur das Thema Hochsensibilität gecoacht bzw. behandelt wird, sondern die Klient*innen in ihrer Gesamtheit gesehen werden mit all den Symptomen und Thematiken, die die Hochsensibilität begleiten.
So kann gewährleistet werden, dass mögliche Störungen, die sonst unter dem Deckmantel der Hochsensibilität übersehen würden, auch bearbeitet werden wie z.B. Traumafolgestörungen.
Resümierend soll erwähnt werden, dass der Ansatz der Kurzzeittherapie bedeutungsvoll ist – so kurz wie möglich und so lange wie nötig.
Die Arbeit in der Praxis sollte ziel- und symptomorientiert und nicht störungsspezifisch stattfinden, wobei den Klient*innen viel Handwerkszeug mitgegeben werden soll, das sie aktiv und selbstständig anwenden können.
Manche Lebenssituationen benötigen allerdings jedoch eine längerfristige Therapie mit einer vertrauensvollen und tragfähigen Arbeitsbeziehung.
Ausführlicher Artikel zu finden in: Stimpfle, P. (2024). Hypnosystemisches für Therapie und Beratung. Hamburg: Tredition.
Über Mag. a Dr. in Christina Blach
Psychologie-Studium in Graz, postgraduelle Ausbildung zur Klinischen und Gesundheitspsychologin. Tätigkeiten im Herz-Kreislauf-Rehabilitationszentrum St. Radegund und in der Krebshilfe Steiermark. Daneben Doktoratsstudium an der Medizinischen Universität Graz mit dem Schwerpunkt Hochsensibilität. Anschließend Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Graz (mit Teamleitung). Seit 2016 in freier Praxis tätig. Lehrgang in Psychoonkologie bei der Österreichischen Gesellschaft für Psychoonkologie (ÖGPO) und Weiterbildung in Klinischer Hypnose.
Mag. a Dr. in Christina Blach
Klinische und Gesundheitspsychologie
Arbeitspsychologie
Psychoonkologie (ÖGPO)
Klinische Hypnose
+43 (0) 650 8581400
www.psychologie-blach.at
praxis@psychologie-blach.at
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Literatur:
Amemiya, R., Takahashi, G., Rakwal, R., Kahata, M., Isono, K. & Sakairi, Y. (2020) Effects of yoga in a physical education course on attention control and mental health among graduate students with high sensory processing sensitivity, Cogent Psychology, 7, 1778895.
Aron, E. N. (2010). Psychotherapy and the Highly Sensitive Person. New York: Routledge.
Aron, E. N. & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 345-368.
Aron, E., Aron, A. & Jagiellowicz J. (2012). Sensory processing sensitivity: a review in the light of the evolution of biological responsivity. Personality and Social Psychology Review, 16, 262-282.
Bakker, K. & Moulding, R. (2012). Sensory-Processing Sensitivity, Dispositional Mindfulness and Negative Psychological Symptoms. Personality and Individual Differences, 53, 3, 341-346.
Banek, N. (2022). Die Selbsterkenntnis der Hochsensibilität. Eine qualitative Studie am Beispiel hochsensibler Menschen im Übergang Schule-Beruf. Springer Nature VS.
Bas, S., Kaandorp, M., de Kleijn, Z. P. M., Braaksma,W.J.E., Bakx, A. W. E .A.& Greven, C. U. (2021). Experiences of Adults High in the Personality Trait Sensory Processing Sensitivity: A Qualitative Study. Journal of Clinical Medicine, 10, 4912.
Blach, C. (2016). Ein empirischer Zugang zum komplexen Phänomen der Hochsensibilität. Hamburg: Disserta.
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Roth, M., Gubler, D. A., Janelt, T., Kolioutsis, B. & Troche, S. J. (2023). On the feeling of being different–an interview study with people who define themselves as highly sensitive. PLoS ONE, 18 (3), e0283311
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