EINLEITENDE WORTE
Wenn eine Frau schwanger wird (oder schwanger werden möchte), gehen ihr tausende (eher: Millionen) Dinge durch den Kopf.
Was ist gut für mich und das ungeborene Baby? Über jeden Sch…marrn macht man sich ernsthafte Gedanken. Wie zB. bei meiner ersten Schwangerschaft: Darf ich jetzt noch Nagellack tragen oder schädigt das Einatmen des Acetons im Nagellackentferner den Fötus? Dinge, über die man (frau) noch NIE nachgedacht hat bzw. nachdenken musste oder gedacht hätte, dass man zum Thema „Aceton“ einmal eine Googlesuche starten würde.
Regeln über Regeln, Expert*innen fragen, Infos sammeln (aha, es gibt auch Acetonfreien Nagellackentferner!) [Habe mich dann übrigens dennoch gegen Nagellack entschieden weil ich dann endlich wieder Nägel kauen konnte]. Immens viel Druck und Verantwortungsgefühl kann sich dabei aufbauen.
Worauf viele Frauen daher die meiste Zeit des Tages vergessen, ist Achtsamkeit: achtsam auf sich selbst hören, hineinspüren und Mitgefühl mit sich selbst entwickeln. Und genau deshalb ist dieser Gastbeitrag so wichtig.
Dankeschön, liebe Regina Kamper!
Der achtsame Weg durch Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und Familienzeit
Geduld ist das Schwerste und das Einzige, was zu lernen sich lohnt. Alle Natur, alles Wachstum, aller Friede, alles Gedeihen und Schöne in der Welt beruht auf Geduld, braucht Zeit, braucht Stille, braucht Vertrauen.
Hermann Hesse
Erntezeit
Es ist Sommer, es ist Erntezeit!
Wir GärnterInnen, LandwirtInnen und mit der Natur verbundenen Menschen stellen uns häufig Fragen wie: Wann ist das Getreide reif? Wie wird die Ernte verlaufen? Welche unvorhersehbaren Ereignisse werden eintreten (z. B. durch die Witterung)? Wie lange wird es dauern bis die Ernte eingebracht ist und wie werden die Früchte beschaffen sein?
Es ist eine besondere Zeit: nach einer Zeit des Bodenvorbereitens, Säens, Düngens, Hegen und Pflegens, Wachsenlassens, achtsamen Begleitens und Beobachtens – sehen wir das Ergebnis. Wir dürfen die reifen Früchte ernten und genießen ein Lebensmittel.
GEDULD UND ACHTSAMKEIT
Was hat das alles mit Schwangerschaft, Geburt und erster Familienzeit zu tun, wirst du dich fragen?
Nun ja, alle diese Vorgänge verlaufen entsprechend der Hortikulturzeit, der Zeit, in der das Keimen, Wachsen, Reifen, Ernten in Landbau und Gartenbau stattfindet. Wir könnten auch sagen, es ist die GärtnerInnen-Zeit, die Geduld und Achtsamkeit mit den Pflanzen beinhaltet.
Im Gegensatz dazu leben wir heute in der sogenannten Industriezeit mit vorgegeben Terminen, Taktung, Stress und Druck, Ergebnisse zu im Vorhinein festgesetzten Zeitpunkten.
Die Prinzipien der Industriezeit wenden wir dann genauso auf Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und Familienzeit an: Wir möchten vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt schwanger werden, die Kinderwunschzeit soll nicht zu lange dauern, wir errechnen sogar einen „Geburtstermin“.
Wir vermessen, vergleichen, suchen nach Sicherheiten in bestimmten Werten.
Wenn sich unsere eigenen Körper und die unserer Kinder nicht nach diesen Vorgaben richten (und das ist ganz oft der Fall – vielleicht hast du es selber erfahren), kann viel Stress, Druck und menschliches Leid entstehen.
ACHTSAMKEIT IN SCHWANGERSCHAFT UND GEBURT
Es ist eine wunderbare Errungenschaft der Industriezeit, dass wir vielfältige technische Möglichkeiten entwickelt haben, um der Natur „auf die Sprünge“ zu helfen. Damit konnte Leben ermöglicht oder bewahrt werden. Ich denke da ans Schwangerwerden genauso wie an das Gebären.
Diesen Verfahren geben wir Bezeichnungen wie „assistierte Reproduktion“ oder „Sectio Caesarea (Kaiserschnitt)“. Hinter diesen etwas technisch klingenden Benennungen (passend zur Industriezeit) verbergen sich Vorgänge, die psychisch gut integriert werden möchten.
Unsere Psyche funktioniert allerdings im Tempo der Hortikulturzeit und kommt stark unter Druck, wenn sie sich permanent der Industriezeit anpassen muss.
Es braucht Zeit, sich seelisch auf das Schwangersein einzustellen, selbst wenn der Körper es schon lange ist oder sogar eine längere Zeit des Wunsches nach diesem Zustand vorangegangen ist.
Jede Geburt hat ihr eigenes Tempo und ihre Zeit und ihre Anzahl an Wellen von Kontraktionen.
Physiologisch gibt das Baby im Bauch seiner Mutter den Anstoß für den Geburtsprozess. An diesem Punkt können Industriezeit und Hortikulturzeit sich spießen:
- Was geschieht, wenn das Baby im Bauch noch nicht vollständig gereift ist und „erst“ 10 Tage nach dem „errechneten Termin“ die geburtsauslösenden Botenstoffe schickt?
- Bekommt das Baby Zeit, um dies in seinem oder ihrem Tempo zu tun?
- Womit ist die schwangere Mama konfrontiert, wenn sie „über den Termin“ geht?
Stress, Druck von außen, teilweise sogar Drohungen, Druck, der sich innerlich aufbaut, Ängste, Geburtseinleitungen, die aber oft nicht den „gewünschten Fortschritt“ bewirken, eine Intervention nach der anderen …
Nichts mehr von Geduld und Achtsamkeit der GärtnerInnen-Zeit und einer wahrscheinlich anstrengenden aber insgesamt friedlichen Geburt für Kind und Eltern.
Oft ist es für alle Beteiligten ein schwieriger Start in eine neue und an sich schon herausfordernde Lebensphase.
ACHTSAMKEIT LERNEN
Wie können wir die Errungenschaften der Industriezeit hilfreich und sinnvoll in Vorgänge, die von Natur aus nach der Hortikulturzeit ablaufen, integrieren?
Sich auf die Prinzipien der Hortikulturzeit einzulassen, erfordert, eine Portion an Ungewissheit und Nicht-Planbarkeit aushalten zu lernen und sich darin zu üben, achtsam zu sein mit dem, was gerade ist – ob es eine Geburtswelle ist, oder eine Pause oder das Weinen des Babys oder die starken Wutgefühle eines 2-Jährigen.
Dafür ist es notwendig, gut für sich selbst zu sorgen, Mitgefühl anderen und ebenso sich selbst gegenüber zu kultivieren ohne etwas erzwingen zu wollen oder sich gleich die nächste Aufgabe aufzuhalsen.
Das stellt für uns Industriezeit-Menschen eine gewaltige Herausforderung dar und bietet gleichzeitig eine enorme Entwicklungschance. Es bedeutet, Schritt für Schritt wieder die Rhythmen des eigenen Körpers kennen zu lernen, den eigenen Körper wieder achtsam wahrnehmen zu lernen und sich wieder auf diese Ursprache, mit der er sich bemerkbar macht, einzulassen.
KÖRPER UND PSYCHE
Unser Körper ist von sich aus weise und kraftvoll, genauso wie unsere Babys. Wir haben durch die Anpassung an die Erfordernisse der Industriezeit oder auch durch körperlich oder seelisch verletzende Erlebnisse lernen müssen, nicht mehr auf unseren Körper zu hören, ihn zu ignorieren, verstummen zu lassen. Unser Körper soll einfach funktionieren wie ein Rädchen im Uhrwerk ohne viel Aufwand.
Die Reise zurück zu mir selbst und zu meinem Körper, kann ein längerer und spannender Weg sein.
Der Zugang zum Körper kann manchmal verschüttet sein, wenn wir in einem abgeschalteten Modus wie betäubt oder abgetrennt von unserem Körper leben, weil wir Verletzungen erlitten haben und uns so vor dem Schmerz schützen mussten.
Die Lebensphase rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und junger Elternschaft ist besonders gut geeignet, sich auf die Reise zu sich selbst und unserem Körper zu machen.
Wir sind in dieser Zeit stark mit unserem Körper konfrontiert, alte Wunden können leicht aufbrechen und haben gleichzeitig die Chance gut zu heilen.
Der Körper einer schwangeren Mama verändert sich rasant. Das Baby entwickelt sich und sogar im Körper des Papas finden Veränderungen statt, sodass sich die Familie als Ganzes mit Körper und Psyche auf Öffnung und Bindung-eingehen schrittweise einstellt und „Familie“ nicht erst mit der Geburt entsteht.
ACHTSAMKEIT UND SELBSTMITGEFÜHL
in Schwangerschaft, Geburt und danach
Damit dies alles gut gelingen kann, braucht es Schutz und Sicherheit von innen und außen.
Suche dir fähige BegleiterInnen für diese Lebensphase, die den Schutz-Raum um dich und deine kleine Familie gut halten können, dich stärken, ermutigen, entlasten, unterstützen, in deiner Entwicklung fördern.
Achtsamkeit und Selbstmitgefühl wollten kultivieren werden.
So kannst du alle herausfordernden Situationen leichter bewältigen lernen – egal ob die Geburt, die erste Phase des Lebens mit Kind, das Weinen, später starke wütende Gefühle deines Kindes.
Lerne auf deinem achtsamen Weg durch Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt, junger Elternzeit deine Bedürfnisse wahrzunehmen und gut für dich selber zu sorgen.
Dann wird es dir immer besser gelingen, bei dir selber und du selber zu sein – egal ob dein Kind das erste oder das letzte in der Gruppe ist, das Laufen lernt oder sauber wird.
Mach das für dich Richtige und Stimmige – egal ob du mehrere Jahre in Karenz sein möchtest oder nach einigen Wochen wieder in den Beruf einsteigen möchtest.
In den Augen der anderen machen wir es sowieso falsch, also warum nicht gleich auf die eigene innere Stimme und die eigenen Bedürfnisse hören.
Das wünsche ich dir von Herzen sowie eine erholsame Sommerzeit!
Über die Autorin:
Mag.a Regina Kamper
Ich bin Klinische Psychologin (Spezialisierung Notfallpsychologie) und Gesundheitspsychologin. Mein Schwerpunkt in der freien Praxis ist prä-, perinatale und Geburtspsychologie sowie Traumapsychologie. Du findest mich so:
2724 Hohe Wand-Maiersdorf, Ortsstraße 36
T: 0676 / 744 17 02
Literatur & Quellen:
- Den Titel für diesen Artikel habe ich gewählt in Anlehnung an Nancy Bardacke (2013), Der achtsame Weg durch Schwangerschaft und Geburt, Arbor Verlag – sehr empfehlenswert zu lesen.
Photo by Raspopova Marina on Unsplash
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