EINLEITENDE WORTE
Kiara Kern ist eine Zürcher Autorin und setzt sich für einen Perspektivenwechsel und Abbau von Vorurteilen in Sachen psychischer Erkrankungen ein. Aus diesem Grund hat sie eine Romanserie dazu entwickelt. Ähnlich wie die Hauptfigur Tinka (obiges Bild beschreibt die Lesesucht der Romanfigur) fühlen sich wohl einige unter uns: irgendwie gefangen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Deshalb freue ich mich sehr über diesen wichtigen, spannenden Gastbeitrag, der auch die Story hinter der Story erzählt.
Danke dir, liebe Kiara!
SINNESWANDEL
End the Stigma!
Jeder von uns erzählt eine Geschichte; ob nun traurig oder zornig, dramatisch oder lustig. Nie ist die Lebensgeschichte von Seite 1 bis 1000 durchgehend positiv. Wir sind Menschen, nicht perfekt. Wir alle haben unsere Sorgen, Eigenheiten, durchleben Phasen, einige leiden gar unter einer Erkrankung. Manchmal kommt es vor, dass diese wie ein Popup-Bild aus dem Nichts auftaucht – und genauso schnell wieder verschwindet. Wenn die Krankheit aber bleibt, lernen wir, damit zu leben. Entscheidend ist wohl, ob der Betroffene rechtzeitig Hilfe holt: denn die ist da.
Erzählen wir keine Märchen, bleiben wir bei der Wahrheit, alles andere wäre bloss Selbstbetrug: Manchmal reicht es schon, zu reden und jemanden neben sich zu wissen, der zuhört. Oft hilft eine Therapie … oder es braucht Medikamente.
Insbesondere bei Jugendlichen und ihrem Umfeld, gerade jetzt, in dieser herausfordernden Zeit, wäre ein Sinneswandel bitter nötig: End the Stigma. Jeder sollte offen über erste Anzeichen psychischer Erkrankungen reden und Fragen stellen können – einfach «sich selbst sein» dürfen.
Wie uns das Schreiben helfen kann
– und wie es der Romanfigur Tinka hilft
Nehmen wir die beiden griechischen Wörter physisch und psychisch unter die Lupe und betrachten jeden einzelnen Buchstaben. Einzige Abweichung: „c“.
Die beiden Wörter gehören also quasi zusammen*. Ob man nun physisch oder psychisch erkrankt, sollte keinen Unterschied bedeuten. Das Zusammenspiel von Körper und Psyche ist faszinierend; informieren wir uns darüber, lesen wir über Erkrankungen, ohne zu werten. Oft spielen wohl Angst und Unwissenheit dem Tabu in die Hände. Das muss sich ändern. Niemand sollte sich für seine Erkrankung schämen müssen. Wenn wir realisieren, wie befreiend es sein kann, offen und ehrlich über diese Thematik zu reden, dann ist der erste Schritt getan, damit durchbrechen wir das Stigma.
Als Autorin kann ich die Kunst- und Schreibtherapie übrigens nur empfehlen. Im Teenageralter erlebte ich, wie heilend das Schreiben sein kann. Ob Tagebuchaufzeichnungen oder ein bittersüsses Gedicht: Schreiben hilft, seine Gedanken zu ordnen. Es ist Konfrontation, Seelenstriptease.
Auch meine Romanfigur Tinka, die als Kind zwischen Buchdeckeln lebte, kann das bestätigen. Mit 27 Jahren wurde sie aufgrund einer Psychose in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und hat sich gleich selbst eine Schreibtherapie verordnet. Inzwischen interviewt sie ihre Mitpatienten und verschreibt ihnen künstliche Happyends – ob die das wollen oder nicht.
VORWORT aus fremdgeträumt, © boox-verlag
Es gibt Leute, deren Konturen zu verblassen drohen. Die einen nutzen direkt den Radiergummi. Andere versuchen, mit zitternden Händen die Konturen aufzufrischen, ein verzerrtes Selbstbild entsteht. Doch gibt es auch solche, die bewusst nach dem Marker greifen und sich bunt bemalen und dabei rufen: Schaut her. Wir sind nicht unsichtbar.
Tinka
Für alle, die in keine Schublade passen
Beschrieb der Romanserie
fremdgefabelt und fremdgeträumt
von Kiara Kern
Die Tinka Braun-Serie (Fiktion, Gegenwartsliteratur) widmet sich einem brandaktuellen Thema. Dies merkt man jedoch erst im letzten Kapitel von Band 1, denn es ist eine Art Leserätsel. Die Protagonistin ist eine junge Frau, die an einer Persönlichkeitsstörung leidet und sich eigentlich in einer psychiatrischen Klinik behandeln lässt. Dabei ignoriert sie diese Tatsache aber so gut sie kann – lieber interviewt sie ihre wunderlichen Mitpatienten und klaut derer Geschichten für eigene Zwecke …
Das besondere an Band 1: Es ist Fiktion in der Fiktion. Alles ist ganz anders als es scheint. Das steht auf dem Buchrücken auch so drauf, aber beim Lesen vergisst man es wohl. Lasst euch überraschen… Band 2 spielt von Anfang an in der psychiatrischen Klinik. (Band 1 und 2 gehören zwar zusammen, man könnte aber auch direkt Band 2 lesen)
Diese Romanserie ist ein Versuch, ein ansonsten ernstes Thema aus einer anderen Perspektive zu beleuchten und die Leser darauf zu sensibilisieren. Es ist eine schräge, unkonventionelle Serie und thematisiert auch die Folgen der Digitalisierung/sozialen Medien/Leistungsdruck.
Einblicke von der Autorin
Die Story hinter der Story:
Als Autorin beobachte ich (dabei schliesse ich mich selber mit ein), dass die Kunst des Zuhörens gerade in dieser hektischen Gesellschaft schleichend verloren geht. In Fremdgeträumt erkennt die Hauptfigur, die selbst mit einigen Problemen zu kämpfen hat, dass man den Leuten ohne Vorbehalte zuhören sollte. Ganz uneigennützig für die Mitpatienten da sein, still neben ihnen sitzen und schweigen: Für die Einsamen, Ausgelaugten, kurz vor dem Suizid stehenden oder diejenigen, die reden wollen. Wobei das wortlose Zuhören gar nicht so einfach ist. Meine Figur Tinka jedenfalls ist inspiriert und will auf ihre eigene Weise helfen – und schreibt den Leuten ihre Geschichten kurzerhand um.
Auch habe ich erlebt, wie toxisch totschweigen sein kann. Die Idee wäre, Gespräche über Erkrankungen mit Hilfe von Literatur, Film, sozialen Medien in Schul-Diskussionen oder zu Hause am Tisch, also in den Alltag einfliessen zu lassen – ohne zu werten. Mit dem Ziel, diese zu enttabuisieren. Inzwischen gibt es ja schon einige TV-Dokumentationen, die Einblick geben und auch in den sozialen Medien geht man offener damit um.
Immer mehr Betroffene offenbaren ihre Erkrankungen im Schutz der Anonymität oder ganz offen in den sozialen Medien. Zum Beispiel schreibt eine Person die infamen Stimmen auf, die sie tyrannisieren. Das Niederschreiben liesse die Stimmen zwar nicht immer verstummen, aber es zügelt die Emotionen, bremse den Fall in die Tiefe.
Die menschliche Psyche bietet so viel Schreibpotential. Aber wie kann ich darüber berichten, wenn ich selber (bis jetzt zumindest) noch nie in einer psychiatrischen Klinik weilte? Nun, ich habe einige Kliniken besucht und durfte Bezugspersonen und Psychiater interviewen. Die Geschichte selbst spielte sich in meinem Kopf ab. Ich persönlich mag Fiktion möglichst skurril.
Doch braucht es natürlich das nötige Fingerspitzengefühl und Feinfühligkeit, um über solche Dinge zu schreiben. Ich hoffe, es ist mir gelungen, denn es ist ein schmaler Grat. Zudem gibt es immer Leute, die sich wohl vor den Kopf gestossen fühlen werden. Genau dieser Gedanke hilft aber nicht während dem Schreiben, dann geht die Kreativität flöten.
Diese Serie zu kreieren war daher eine ziemliche Herausforderung. Doch finde ich, dass Galgenhumor in vielen Lebenslagen hilft, genau wie Offenheit und Austausch. Diesen Humor spürt man hoffentlich durch die Seiten hindurch.
Es ist nun mal so, dass ich für dieses Thema brenne. Keine Ahnung wieso, ich finde die menschliche Psyche das Spannendste, was es gibt. Insofern interessieren mich die Aussenseiter, die in ihren eigenen sonderbaren Welt leben. Warum sollte ich über normale Leute schreiben? Und überhaupt, was heisst schon normal? Aus welcher Perspektive?
Über Kiara Kern:
Suchergebnisse: Kiara Kern | Thalia.at: Zum Finden erfunden
Homepage: www.kiarakern.com
Instagram: kiarakern80 *Siehe WORTspiele Highlights
Artwork by Kiara Kern
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